Es ist schon Ende Mai. Das Wetter hat auf sich warten lassen. Auf manches muss man sehr lange warten. Doch dann bricht er durch, der Frühling.
Im Innenhof des Hospizes herrscht Hochkonjunktur. Herr Z. hat gerade das letzte Laub des alten Jahres weggekehrt. Er kommt noch regelmäßig, seit er hier von seiner Frau Abschied genommen hat. Er ist dankbar, dass er hier nachwievor einen Anlaufpunkt hat.
Die architektonische Gestaltung dieses Ortes ist, wie alles hier gut durchdacht. Mittig plätschert sanft ein Brunnen und verbreitet Frische, liebevoll gestaltete Blumenarrangements locken eifrige Bienchen und die Blicke der Verweilenden. Sie haben es sich auf gepflegten Gartenmöbeln bequem gemacht und genießen die Sonne, die heute endlich scheint, als gäbe es kein Morgen.
Mahlzeiten werden draußen serviert. Besucher suchen ihre Lieben vergebens in den Zimmern, der Kaffee wird an diesem Tag im Innenhof getrunken. Alle sprechen über das Wetter. Wie unsagbar tief ein schnödes Gespräch über das Wetter sein kann.
Immer wieder staune ich, wie viel hier noch passiert. Es ist die Endstation. Menschen kommen um zu sterben und doch habe ich erleben dürfen, wie manch einer aufblühte, bevor es dann Zeit war zu gehen. Weil ihnen Zuwendung zu Teil wurde, weil sie Freundschaft schließen konnten, Frieden mit sich und ihrem Leben.
Frau K. will raus. Die alte Dame hat einen erstaunlich forschen Schritt, als wir auf den Ausgang zuhalten. Hinter der Schiebetür hält sie kurz inne und zieht tief die Luft ein. Es braucht keine Worte – das Wetter! – es ist einfach nur wunderbar. Am Freitag wollen wir wieder gehen, aber es regnet. Ich bewundere Frau K. dafür, dass sie ihre Enttäuschung darüber so aufrichtig zeigen kann. Das Mittagessen schmeckt ihr heute nicht. Die Worte, die sie findet rühren mich zutiefst: „Ich glaube, mir ist der Regen auf den Magen geschlagen.“ Ich drücke sie kurzerhand feste an mich, wie gut ich das verstehe, auch ich brauche Luft und Freiheit mindestens so sehr wie mein täglich Brot.
Freiheit ist ein Gefühl. Davon bin ich fest überzeugt. Und so fühle ich mich frei, Frau K. auch über meinen ehrenamtlichen Dienst hinaus, immer wieder zu einem Spaziergang abzuholen, bis sie endgültig innegehalten haben wird, um ein letztes Mal ganz tief die Luft einzuziehen.
Freigeist! Schön!