Aphasie

Eine halbe Stunde für EIN Wort.

Nun gut: FÜ – SI – O – TE- RA – PEU – TIN ist schon ein sehr langes, aber eine ganze halbe Stunde für EIN Wort? Die Zeit muss man erst einmal haben.

Sie ist halbseitig gelähmt, aber ihr Verstand ist völlig klar. Sie versteht jedes Wort und erinnert sich bestens an Vergangenes und an das, was Zukünftiges einmal bringen sollte. Im kommenden Jahr wollte sie Goldhochzeit feiern. Das alles hat sie mir erzählt. Und noch viel mehr. Das meiste von dem was jemals erzählt wird, steht sowieso immer zwischen den Zeilen.

Sie kann die Worte denken, aber sie kann sie nicht aussprechen. Sie will etwas sagen und noch während sie das Wort formt, entfällt es ihr und steht zwischen uns. „Meine Mutter“ sagt sie, immer wieder „meine Mutter“, im Bewusstsein, dass sie etwas anderes meint.  „Meine Mutter“ steht zwischen uns, bis ich mich von den Worten löse und überlege, was sie mir tatsächlich sagen will.

Ich lege ihr alles Mögliche in den Mund: meine Großmutter? Meine Tante? Meine Schwester? Meine Schwägerin? Wie ich es hasse, wenn andere MIR Worte in den Mund legen wollen. Aber sie macht es mir leicht und widerspricht, bis ich mich an ihrem Nein entlang zu „meine Tochter“ gefragt habe. „Daumen hoch“ zeigt sie mir dafür. Für diese gemeinsam erbrachte Leistung beschenken wir uns gegenseitig mit heiterem Lachen.

Wie viel Zeit verschwendet der Mensch im Allgemeinen darauf, dem Leben davon zu laufen. Wie viel  sinnlose Worte werden dabei bemüht, um sich auf Dauer erbarmungslos zwischen die Menschen zu stellen. Ausgerechnet im Angesicht des Todes will dies oft nicht mehr gelingen.

“Take the time to waste a moment” (nimm‘ die Zeit, einen Moment zu verschwenden), heißt es in einem Lied des vergangenen Jahres.

Ja, genau! Was ist schon eine halbe Stunde für EIN Wort?

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